Tenor
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten der Klägerin auch im Revisionsverfahren.
Tatbestand
Im Streit steht die Feststellung einer Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung ab 28.5.2020.
Die 1987 geborene Klägerin ist diplomierte Designerin und erzielt seit 2017 den überwiegenden Anteil ihrer Einnahmen als selbständige Tätowiererin. Darüber hinaus ist sie als Illustratorin und Zeichnerin selbständig tätig. Sie nahm an Ausstellungen teil und gewann hierbei auch Preise. Ihren Antrag auf Feststellung der Versicherungspflicht nach dem KSVG lehnte die beklagte Künstlersozialkasse ab: Tätowierer seien nach dem BSG nur dann bildende Künstler im Sinne von § 2 Satz 1 KSVG, wenn sie mit ihren Arbeiten Aufmerksamkeit und Anerkennung über den eigenen Kundenkreis und über die Szene der Tätowierer hinaus erzielten (Bescheid vom 3.7.2020 und Widerspruchsbescheid vom 2.7.2021, jeweils mit Verweis auf BSG vom 28.2.2007 – B 3 KS 2/07 R – BSGE 98, 152 = SozR 4-5425 § 2 Nr 11).
Das SG hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass die Klägerin in ihrer Tätigkeit als Tattookünstlerin und Illustratorin ab 28.5.2020 der Versicherungspflicht nach dem KSVG unterliegt: Im Hinblick auf Tätowierungen, wie sie von ihr gestochen würden, habe sich die allgemeine Verkehrsanschauung seit dem Urteil des BSG aus 2007 geändert. Es habe sich eine neue kreative Tätowierszene etabliert. Bei diesen Kreativen habe sich der Schwerpunkt von einer handwerklichen zu einer künstlerischen Betätigung entwickelt. Das Gericht sei davon überzeugt, dass die Klägerin eine klassische Tätigkeit als Illustratorin auf der Haut ihrer Kunden fortführe. Sei eine Tätowiererin, wie die Klägerin, diplomiert und in ihren Kreisen bereits eine anerkannte Künstlerin, bleibe sie dies auch dann, wenn sie lediglich einen Wirkbereich ihrer Kunst mittels handwerklicher Tätigkeit auf und in der Haut verewige (Urteil vom 9.6.2022). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die Klägerin sei seit ihrem Studium in ihrem Gesamtwirken künstlerisch tätig und mit dieser einheitlich zu bewertenden Kunst – lediglich in ihren dargestellten Medien variierend – als Künstlerin anerkannt. Sie erstelle selbst individuelle Motive und setze diese als Tattoo um. Daher habe sie kein angestammtes handwerkliches Berufsfeld des Tätowierers verlassen, sondern ein solches zu keinem Zeitpunkt begründet (Urteil vom 22.12.2022).
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 1 iVm § 2 KSVG. Eine Änderung der Verkehrsanschauung seit dem Urteil des BSG aus 2007 sei nicht dokumentiert. Für eine Unterscheidung von Tätowierern als Künstlern und Handwerkern fehlten zudem objektive Abgrenzungskriterien.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 22. Dezember 2022 und des Sozialgerichts Hamburg vom 9. Juni 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Die Klägerin, die den überwiegenden Anteil ihrer Einnahmen als selbständige Tätowiererin erzielt, schafft mit ihren Tätowierungen bildende Kunst und ist seit 28.5.2020 versicherungspflichtig nach dem KSVG.
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die Urteile der Vorinstanzen und der Bescheid der Beklagten vom 3.7.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.7.2021, durch die von der Beklagten die Feststellung der Versicherungspflicht der Klägerin nach dem KSVG abgelehnt worden ist und gegen die sich die Klägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, § 55 Abs 1 Nr 1 SGG) wendet. Nachdem das SG unter Aufhebung der Bescheide die Versicherungspflicht ab 28.5.2020 festgestellt und das LSG die Berufung der Beklagten zurückgewiesen hat, erstrebt die Beklagte mit ihrer Revision die Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen und Abweisung der Klage. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch den Senat ist die mündliche Verhandlung des LSG (vgl näher BSG vom 4.6.2019 – B 3 KS 2/18 R – BSGE 128, 169 = SozR 4-5425 § 2 Nr 26, RdNr 13).
2. Rechtsgrundlage der Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung ist hier § 1 KSVG (in der Fassung des RVOrgG vom 9.12.2004, BGBl I 3242) iVm § 2 Satz 1 KSVG (in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Gesetze vm 13.6.2001, BGBl I 1027).
Nach § 1 KSVG werden ua selbständige Künstler in der allgemeinen Rentenversicherung, in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversicherung versichert. Neben weiteren Voraussetzungen erfordert dies eine selbständige künstlerische Tätigkeit. Künstler in diesem Sinne ist, wer Musik, darstellende oder bildende Kunst schafft, ausübt oder lehrt (§ 2 Satz 1 KSVG). Im Streit steht zwischen den Beteiligten zu Recht allein die Künstlereigenschaft der Klägerin, dh hier, ob sie bildende Kunst schafft.
3. Für den Begriff der Kunst und für die Künstlereigenschaft im Sinne des KSVG knüpft der Senat in ständiger Rechtsprechung als Einordnungshilfe an die sog Katalogberufe nach dem „Bericht der Bundesregierung über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe (Künstlerbericht)“ aus dem Jahr 1975 (BT-Drucks 7/3071) und an den mit dem KSVG verfolgten Zweck des sozialen Schutzes selbständiger Künstler an. Dieser Zweck erfordert und rechtfertigt die Einbeziehung auch im Künstlerbericht nicht genannter Ausübungsformen von Kunst in den Schutz durch die Künstlersozialversicherung jedenfalls dann, wenn diese ungeachtet ihrer Neuartigkeit eine Nähe zu den im Künstlerbericht genannten typologischen Ausübungsformen aufweisen (vgl nur BSG vom 25.10.1995 – 3 RK 24/94 – BSGE 77, 21 = SozR 3-5425 § 24 Nr 12, juris RdNr 17 f; BSG vom 7.7.2005 – B 3 KR 37/04 R – SozR 4-5425 § 2 Nr 5, juris RdNr 13 f; BSG vom 28.9.2017 – B 3 KS 1/17 R – SozR 4-5425 § 2 Nr 25 RdNr 22).
4. Ausgehend hiervon ist Tätowieren nicht stets Kunst und sind Tätowierer nicht stets Künstler. Tätowieren kann indes Kunst und Tätowierer können Künstler im Sinne der Künstlersozialversicherung sein.
Zwar hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest, dass das Tätowieren grundsätzlich keine Künstlereigenschaft begründet (BSG vom 28.2.2007 – B 3 KS 2/07 R – BSGE 98, 152 = SozR 4-5425 § 2 Nr 11). Danach ist das Tätowieren nach wie vor trotz einer kreativen Komponente eine handwerkliche Tätigkeit im weiteren Sinne, weil der Schwerpunkt auf dem Einsatz manuell-technischer Fähigkeiten liegt.
Indes galt dieser Grundsatz nach der Rechtsprechung des Senats schon bislang nicht ausnahmslos; auch daran hält der Senat weiter fest. So können Tattoo-Designer, die sich auf das Entwerfen und Zeichnen von Tattoo-Motiven und Vorlagen als Arbeitsmittel für Tattoo-Studios beschränken, Künstler im Sinne des § 2 Satz 1 KSVG sein. Dies ist auch dann möglich, wenn Tätowierer mit ihren Werken in Fachkreisen der bildenden Kunst als Künstler anerkannt und behandelt werden (vgl im Einzelnen BSG vom 28.2.2007 – B 3 KS 2/07 R – BSGE 98, 152 = SozR 4-5425 § 2 Nr 11, RdNr 21 zum Tattoo-Designer und RdNr 22 zur Anerkennung in Kunstkreisen; vgl zum Festhalten an diesen Maßstäben bereits BSG vom 10.3.2011 – B 3 KS 4/10 R – SozR 4-5425 § 2 Nr 19 RdNr 11 ff, 16 ff).
Ungeachtet dessen, ob die Klägerin bereits von diesen Ausnahmen erfasst wird, gibt ihre Konstellation Anlass zur Präzisierung der Rechtsprechung des Senats und zur Konturierung einer weiteren Ausnahme, die einen Wandel der allgemeinen Verkehrsanschauung zum Tätowieren insgesamt nicht voraussetzt.
5. Tätowierern, bei denen der Entwurf des individuellen Motivs und dessen Umsetzung in einem Tattoo als Unikat zu einem Gesamtkunstwerk verwoben sind, ist der Zugang zur Künstlersozialversicherung eröffnet.
a) Erforderlich hierfür ist die Zugehörigkeit zur Gruppe der Tätowierer, die künstlerisch ausgebildet oder als Künstler in anderen Ausübungsformen als dem Tätowieren anerkannt sind. Hinzu kommen muss, dass sich bei ihnen zwischen Kunst und Handwerk nicht trennen lässt, weil das aus zeichnerisch-entwerfender kreativer Tätigkeit entstandene individuelle Motiv und dessen Umsetzung sowie Fertigstellung auf und in der Haut mit eigenschöpferischem Gestaltungsspielraum bzw kreativen Freiheiten in einem künstlerischen Vorgang verwoben sind und das Tätowieren nicht die bloße handwerklich-technische Umsetzung einer kreativen Idee ist. Motiv und Tätowierung bilden vielmehr ein Gesamtkunstwerk und bleiben ein Unikat, das nicht weiter produziert und vermarktet wird.
b) Für den Zugang dieser Gruppe von Tätowierern zur Künstlersozialversicherung kommt es nicht darauf an, ob der Anerkennung als Kunst im Sinne des § 2 Satz 1 KSVG auch ein korrespondierender Abgabetatbestand nach § 24 KSVG gegenübersteht. Das Fehlen eines Abgabetatbestands für die Künstlersozialabgabe sperrt nicht die Anerkennung einer künstlerischen Ausübungsform als Kunst im Sinne der Künstlersozialversicherung.
c) Auch bei Anerkennung dieser Ausnahme ist nach wie vor nicht jedes Tattoo Kunst und nicht jeder Tätowierer Künstler; ein dahingehender Wandel der allgemeinen Verkehrsanschauung lässt sich – ungeachtet der deutlich zugenommenen Verbreitung und Akzeptanz von Tätowierungen in der Gesellschaft einschließlich ihrer medialen Präsenz (ähnlich unter anderem rechtlichen Blickwinkel bereits BVerwG vom 17.11.2017 – 2 C 25.17 – BVerwGE 160, 370 RdNr 50) – nicht feststellen. Das von einem künstlerischen Berufsbild des Tätowierens abzugrenzende und mit den hier formulierten Kriterien auch abgrenzbare konventionelle handwerkliche Tätowieren fällt danach nicht in den Schutzbereich der Künstlersozialversicherung.
6. Nach diesen Maßstäben schafft die Klägerin bildende Kunst, wie bereits die Vorinstanzen zutreffend angenommen haben.
Sie gehört als diplomierte Designerin der vorbeschriebenen Gruppe an, und sie ist nicht nur künstlerisch ausgebildet, sondern war und ist zudem in Künstlerkreisen auch als Illustratorin und Zeichnerin anerkannt und etabliert. Ihre künstlerische Tätigkeit setzt sie mit ihren den wirtschaftlichen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ausmachenden Tätowierungen fort, mit denen sie eigene kreative individuelle Motive in Tattoos auf und in der Haut als einem Medium ihrer Ideen eigenschöpferisch umsetzt. Diese Tattoos bilden ein einheitliches Gesamtkunstwerk, bei dem sich zwischen Motiv (Design) und Umsetzung (Ausführung) nicht trennen lässt, sie bleiben Unikate und werden nicht seriell verwendet, weder von der Klägerin noch von Dritten. Die Klägerin ist danach nicht Tätowiererin, sondern „einheitliche“ Künstlerin, die (auch) tätowiert (vgl zu einer ähnlichen Einzelfallwürdigung unter Betonung der Einheitlichkeit LSG für das Saarland vom 9.6.2020 – L 1 R 23/19 – juris RdNr 46 f, 51).
Unbeachtlich ist daher, wie durch die Klägerin die Aufteilung und Berechnung ihrer Preise für den Motiventwurf und für das Tätowieren im Einzelnen ausgestaltet ist. Entscheidend bleibt, dass der Entwurf und dessen Umsetzung eine Einheit bilden, weshalb auch die Umsetzung des Motivs in Konstellationen wie hier Kunst im Sinne der Künstlersozialversicherung ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
(Namen der Richterinnen und Richter)
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Unseren Terminsbericht von der Verhandlung des Bundessozialgerichts am 27.06.2024 findest du hier.
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