Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 22.12.2022 zum Az. L 1 KR 80/22 D
Tenor
- Die Berufung wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Versicherungspflicht der Klägerin in ihrer Tätigkeit als Tattookünstlerin und Illustratorin nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG).
Die 1987 in R1 geborene und seit 2015 in Deutschland lebende Klägerin schloss 2010 ein Studium an der Technischen Universität M1 als Designerin (graphisches Design, Fernseh- und Filmdesign) mit dem Diplom ab. Im Zeitraum von Mai 2009 bis November 2016 ging sie Beschäftigungen vor allem im Bereich Illustration/Animation bei verschiedenen Arbeitgebern zunächst in R1, später in Deutschland nach und war im selben Bereich zeitweise auch als Freelancerin tätig. Daneben stellte die Klägerin individuelle kleine Puppen her, die sie auf Märkten und über das Internet veräußerte, was sie in kleinerem Umfang bis heute tut. Seit 2017 ist die Klägerin auch und überwiegend als Tätowiererin tätig, zum Teil reisend, vor allem aber angedockt an Tattoo-Studios, zunächst in B. und seit Juni 2019 im K.-Studio H., dies jeweils im eigenen Namen und auf eigene Rechnung. Darüber hinaus fertigt die Klägerin Logo-Designs, Illustrationen und Animationen für die Werbung. Sie tritt auch unter den Namen D. sowie unter dem Pseudonym „R.“ auf.
Die Klägerin nahm seit 2005 an verschiedenen Design-, Puppen- und Kunstausstellungen teil, seit 2017 darüber hinaus an mehreren Tattoo-Festivals bzw. -Conventions, gewann hierbei auch Preise (u.a. 1. Preis bei der 23. L., „Best Character“ bei der „M.“, M1, 2014). In dem von ihr mitbetriebenen Studio „C1“ stellte sie in der Zeit vom 31. Juli bis zum 31. August 2021 verschiedene ihrer Arbeiten in Präsenz aus (Videos hierzu sind – ebenso wie solche, die von der Klägerin erstellte Tätowierungen zeigen – auf dem Videoportal T. zu sehen <>). Über den Internetauftritt des Studios (, abgerufen am 6. Dezember 2022) bietet u.a. die Klägerin Werke von sich zum Kauf und – unter Darstellung mehrerer Arbeiten – Tätowierungen als Dienstleistung an. Entsprechend ist der Inhalt des Internetauftritts unter dem Pseudonym der Klägerin (, abgerufen am 1. Dezember 2022), und auf dem Portal „P.“ für verschiedene Künstler (am 1. Dezember 2022) findet sich eine Selbstdarstellung der Klägerin, in der sie die Hauptrichtung ihrer Arbeit als „dark and gloomy fantasy art“ bezeichnet. Auf der internationalen Ausstellung „V.“ und der „S.“ präsentierte die Klägerin jeweils eine Tuschezeichnung. Im Oktober 2022 nahm die Klägerin an zwei Ausstellungen in T1 teil, eine davon vermittelt über ihre ehemalige Ausbilderin an der Technischen Universität M1, die andere in einer Galerie.
Am 28. Mai 2020 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versicherung nach dem KSVG und gab hierbei an, im Bereich Bildende Kunst/Design (Maler/in/Zeichner/in/Illustrator/in, Bildhauer/in, Medienkünstler/in, Künstlerische/r Fotograf/in/Fotodesigner/in/Werbefotograf/in, Game-Designer/in, Tattoo-Kunst: Zeichnen von Tattoo Motifs, Tätowieren und Fotografieren) selbstständig und erwerbsmäßig tätig zu sein. Sie habe die Tätigkeit erstmalig erwerbsmäßig im Februar 2017 aufgenommen und werde hieraus im laufenden Kalenderjahr voraussichtlich ein Jahresarbeitseinkommen in Höhe von 25.000 Euro erzielen. Beigefügt waren u.a. ein Lebenslauf, der Vertrag mit dem K.-Studio über die Studionutzung, ein Vertrag mit der Fa. B1 über ein Projekt zur Herstellung von Tattoos für von der vorgenannten Fa. ausgeloste Preisgewinner (wannadoo) sowie einige Rechnungen für erstellte Tattoos.
Mit Bescheid vom 3. Juli 2020 stellte die Beklagte fest, dass die Klägerin nicht der Versicherungspflicht nach dem KSVG unterliege. Die Tätigkeit der Klägerin könne nicht als künstlerisch/publizistisch im Sinne dieses Gesetzes angesehen werden, weil der Schwerpunkt der Tätigkeit nach eigenen Angaben im Bereich der Tätigkeit als Tätowiererin liege. Tätowierer seien nur dann bildende Künstler im Sinne von § 2 KSVG, wenn sie mit ihren Arbeiten Aufmerksamkeit und Anerkennung über den eigenen Kundenkreis und über die Szene der Tätowierer hinaus erzielten. Fehle es an objektiven Hinweisen auf eine Anerkennung und gleichwertige Behandlung gerade in den maßgebenden Kreisen der bildenden Künstler (z. B. Erwähnung in Kunst-Fachmagazinen, Präsentationen auf Kunstausstellungen, Erwähnung in Künstlerlexika) liege keine künstlerische Tätigkeit vor.
Hiergegen erhob die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten am 3. August 2020 Widerspruch. Die Klägerin arbeite nicht nur als Tätowiererin, sondern von ihrer Tätigkeit würden auch weitere Bereiche der visuellen bzw. bildenden Kunst umfasst. Das kreative bzw. künstlerische Arbeiten stehe im Vordergrund, das Handwerk diene lediglich dazu, den Ausdruck zu realisieren. Verwiesen wurde auf im Bereich der visuellen Kunst erhaltene Preise, auf die Illustration der Buchveröffentlichung „Battle on the Frozen Lake: truth, myths and lies“, 2017, sowie auf eine Tätigkeit für die Fa. P1 (Illustrationen und Animationen für eine App und eine Website). Die Arbeiten der Klägerin würden nicht nur im Kreis ihrer Kunden geschätzt, sondern seien sowohl bei Ausstellungen als auch bei zahlreichen Veröffentlichungen vertreten. Sie verwies auf einen lobenden Bericht über ihre Tattookunst im Blog der Künstlerin S.F. (durch das Gericht abgerufen am 7. Dezember 2022) sowie Empfehlungsschreiben dreier Tätowier-Kunden/innen, eine davon eine Kunststudentin. Auf Nachfrage der Beklagten gab die Klägerin an, ca. 85 % ihrer Einnahmen durch das Tätowieren und ca. 15 % durch Malerei und Illustrationen zu erzielen.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 2021 zurück. Tätowierer seien nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Februar 2007 – B 3 KR 2/07 R – nur dann bildende Künstler im Sinne von § 2 KSVG, wenn sie mit ihren Arbeiten Aufmerksamkeit und Anerkennung über den eigenen Kundenkreis und über die Szene der Tätowierer hinaus erzielten. Eine künstlerische Tätigkeit im Sinne des KSVG liege dagegen nicht vor, wenn es an objektiven Hinweisen auf eine Anerkennung und gleichwertige Behandlung gerade in den maßgeblichen Kreisen der bildenden Künstler fehle (z.B. Erwähnung in Kunstfachmagazinen, Präsentationen auf Kunstausstellungen, Erwähnung in Künstlerlexika). Nicht ausreichend für den Nachweis einer künstlerisch geprägten Tätigkeit seien dagegen beispielsweise Dankesschreiben zufriedener Kunden, eine hohe Wertschätzung bei Kollegen, die Erwähnung in einer Fachzeitschrift, die einzelne Vorlage von Gutachten oder Stellungnahmen, der Sachvortrag, dass nicht nach Schablone gearbeitet werde. Die Teilnahme an und Prämierung im Rahmen sog. „Conventions“ stelle keine Anerkennung in maßgeblichen fachkundigen Kreisen im Bereich der bildenden Kunst dar, es sei denn, die Jury setze sich aus Vertretern der bildenden Kunst zusammen. Bei einem – wie hier – aus unterschiedlichen Tätigkeiten zusammengesetzten Berufsbild könne von einem künstlerischen Beruf nur dann ausgegangen werden, wenn die künstlerischen Elemente das Gesamtbild prägten, Kunst also den Schwerpunkt der Berufsausübung bilde. Dabei sei vorrangig auf die jeweilige Vergütung in den unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen abzustellen. Bei dem hier zu bewertenden Tätigkeitsprofil überwiege der künstlerische Aspekt nicht.
Am 26. Juli 2021 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hamburg erhoben und die Feststellung begehrt, dass sie in ihrer Tätigkeit als Tattookünstlerin und Illustratorin bei der Beklagten gemäß den Vorschriften der Künstlersozialversicherung ab dem 28. Mai 2020 in der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sei.
Unter Wiederholung ihres Vorbingens im Widerspruchsverfahren hat die Klägerin ergänzt, dass es sich bei ihren Tattoos nicht um simple Schriftzüge oder Tribals handle, sondern vielmehr um Darstellungen, die in Farb- und Formgebung sowie hinsichtlich des gestalterischen Niveaus anerkannter Kunstmalerei in nichts nachstünden. Der individuelle Stil der Klägerin komme dort genauso zum Tragen wie ihre Kreativität. Die von ihr geschaffenen Tätowierungen entsprächen zudem jedenfalls dem materiellen Kunstbegriff des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG), in welchem das kennzeichnende Merkmal der Kunst sei, dass durch freie schöpferische Gestaltung bestimmte Eindrücke, Erfahrungen, und Erlebnisse des Künstlers zum Ausdruck gebracht würden (Hinweis auf das sog. Mephisto-Urteil vom 24. Februar 1971 – 1 BvR 435/68 –, BVerfGE 30, 173). Die Klägerin bringe in ihre Gestaltungen, die als Vorlage für die gestochenen Tattoos dienten, sowohl eigene reflektierte Stimmungen und Eindrücke als auch spezielle ästhetische Vorlieben fern des Mainstreams ein. Für die Beurteilung, ob es sich um eine künstlerische Tätigkeit handele, dürfe nicht allein auf das Medium abgestellt werden. Ölfarben und Leinwände seien ohne den Prozess des kreativen Malens und den Kontext, in den das geschaffene Werk gesetzt werde, auch nur profane Kohlenstoffverbindungen. Die Klägerin werde letztlich gerade wegen ihres hochindividuellen und gestalterisch anspruchsvollen Stils nachgefragt.
Die Beklagte ist dem unter Bezugnahme auf die Gründe ihres Widerspruchsbescheids entgegengetreten und hat ergänzend vorgetragen, dass das BSG darauf abgestellt habe, dass nicht nur die eigentliche Grafik geschuldet werde, sondern auch die handwerksgemäße Umsetzung. Diese sei danach grundsätzlich nicht als künstlerisch einzustufen, es sei denn, eine sogenannte Anerkennung in den Fachkreisen der bildenden Kunst (in der Eigenschaft als Tätowierer) sei belegt. Die nachgewiesenen Teilnahmen an Ausstellungen beträfen den Bereich der erwerbsmäßigen Tätigkeit als Malerin und Illustratorin, aus der die Klägerin lediglich 15% ihres Arbeitseinkommens erziele.
Das SG hat über die Klage am 9. Juni 2022 mündlich verhandelt. In diesem Rahmen hat die Klägerin Originalentwürfe, die als Vorlage für Tattoos dienten, sowie Fotos von den daraus entstandenen Tattoos gezeigt. Sie hat vorgetragen, dass zunächst ein Entwurf erstellt werde, der sich manchmal nach Kundenwünschen richte, sich manchmal aber auch erst im Gespräch entwickle. Der Entwurf werde dann noch einmal mit dem Kunden besprochen und erst dann fein herausgearbeitet, weil der Ort der Platzierung sowie die Beschaffenheit der Haut einen Gestaltungsspielraum übrigließen. Entwürfe von anderen Tattoos als Vorlage seien nicht erwünscht, sondern eher Bilder oder Fotografien, die den Kunden gefielen, als Inspiration. Für den Entwurf werde eine erste Rechnung erstellt, die bei kleinen Entwürfen etwa 100 bis 150 Euro betrage, bei größeren wie dem im Termin gezeigten 550 Euro. Für die Ausführung des Tattoos nehme sie dann 130 bis 150 Euro pro Stunde, wobei sie für das von ihr gezeigte größere Tattoo ca. 18 bis 20 Stunden ansetze. Eine andere Art zu arbeiten stelle sich so dar, dass sie einem Kunden mit einem Stift ein Motiv auf die Haut male, und es dann danach steche. Dabei handele es sich um freie Entwürfe, die mit den Kunden abgestimmt seien.
Die Klägerin hat auf Nachfrage erklärt, dass zwischen den Motiven, die sie als Tattoos steche, und ihren sonstigen künstlerischen Arbeiten dergestalt ein Zusammenhang bestehe, dass die Motive sich ähnelten, aber aufgrund der unterschiedlichen Beschaffenheit der Untergründe auch abgewandelt würden.
Das SG hat der Klage mit Urteil vom 9. Juni 2022 stattgegeben und unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 3. Juli 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Juli 2021 festgestellt, dass die Klägerin in ihrer Tätigkeit als Tattookünstlerin und Illustratorin bei der Beklagten gemäß den Vorschriften der Künstlersozialversicherung ab dem 28. Mai 2020 in der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist.
Die Klage sei als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden, und begründet. Die Beklagte habe zu Unrecht die Versicherungspflicht der Klägerin im Hinblick auf ihre Tätigkeit als Tattookünstlerin nach dem KSVG verneint. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten seien daher rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für die Feststellung der Versicherungspflicht sei § 1 KSVG. Hiernach würden selbstständige Künstler und Publizisten in der allgemeinen Rentenversicherung, in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversicherung versichert, wenn sie die künstlerische oder publizistische Tätigkeit erwerbsmäßig und nicht nur vorübergehend ausübten und im Zusammenhang mit der künstlerischen oder publizistischen Tätigkeit nicht mehr als einen Arbeitnehmer beschäftigten, es sei denn, die Beschäftigung erfolge zur Berufsausbildung oder sei geringfügig im Sinne des § 8 SGB IV. Nach § 2 S. 1 KSVG sei Künstler im Sinne dieses Gesetzes, wer Musik, darstellende oder bildende Kunst schaffe, ausübe oder lehre. Diese Voraussetzungen seien bei der Klägerin zur Überzeugung der Kammer erfüllt, denn die Tätigkeit der Klägerin lasse sich dem Bereich der bildenden Kunst im Sinne des § 2 S. 1 KSVG zuordnen.
Der Begriff der künstlerischen Tätigkeit sei aus dem Regelungszweck des KSVG unter Berücksichtigung der allgemeinen Verkehrsauffassung und der historischen Entwicklung zu erschließen. Aus den Materialien zum KSVG ergebe sich, dass der Begriff der Kunst trotz seiner Unschärfe auf jeden Fall solche künstlerischen Tätigkeiten umfasse, mit denen sich der „Bericht der Bundesregierung über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe (Künstlerbericht)“ aus dem Jahre 1975 (BT-Drucks 7/3071) beschäftige. Der Gesetzgeber habe damit einen an der Typologie von Ausübungsformen orientierten Kunstbegriff vorgegeben, der in aller Regel dann erfüllt sei, wenn das zu beurteilende Werk den Gattungsanforderungen eines bestimmten Kunsttyps entspreche. Bei diesen Berufsfeldern sei das soziale Schutzbedürfnis zu unterstellen, ohne dass es auf die Qualität der künstlerischen Tätigkeit ankomme oder eine bestimmte Werk- und Gestaltungshöhe vorausgesetzt werde (st. Rspr., BSG, Urteil vom 23. März 2006 – B 3 KR 9/05 R –, SozR 4-5425 § 2 Nr. 7m.w.N.). Der Künstlerbericht mit seinen Katalogberufen diene allerdings lediglich als Einordnungshilfe, anhand derer selbstständig nachzuvollziehen sei, ob die zu beurteilende Tätigkeit nach den für die Aufstellung des Künstlerberichts maßgebenden Kriterien einem der drei Bereiche künstlerischer Tätigkeit zuzuordnen sei und ob sie weder als Traditions- und Brauchtumspflege noch als (kunst)handwerkliche Tätigkeit – oder auch weil sie dem technischen Bereich zuzuordnen sei – aus dem Schutzbereich des KSVG ausgeschlossen sei. Würde der Bericht die Vielfalt und Dynamik in der Entwicklung künstlerischer oder publizistischer Berufstätigkeit missachten und neuartige Kunstformen ausschließen, stünde dies dem bewusst offengehaltenen Kunstbegriff des § 2 KSVG entgegen (BSG, Urteil vom 20. März 1997 – 3 RK 15/96 –, „Musikinstrumentenbauer“; BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 – B 3 KR 13/97 R –, „Feintäschner“).
Im Künstlerbericht der Bundesregierung sei weder der Beruf des Tätowierers noch der der Tattookünstlerin verzeichnet. Das BSG sei in seiner Entscheidung vom 28. Februar 2007 (B 3 KS 2/07 R, juris) zu dem Ergebnis gekommen, dass die Tätigkeit des Tätowierens trotz einer kreativen Komponente – auch ohne Erfassung in der Handwerksordnung – eine handwerkliche Tätigkeit sei, weil der Schwerpunkt auf dem Einsatz manuell-technischer Fähigkeiten liege, so dass es nicht der bildenden Kunst im Sinne des § 2 KSVG zugerechnet werden könne. In der Begründung heiße es, der erste kreative Arbeitsschritt diene nur als Vorarbeit zum handwerklichen Arbeitsschritt, der den Schwerpunkt der Tätigkeit bilde und aus dem der Tätowierer in erster Linie sein Einkommen erziele. Tätowierer könnten sich nicht mit einem Maler vergleichen, weil es dabei um die bereits nach allgemeiner Verkehrsauffassung als künstlerisch geltende Tätigkeit des Malens gehe. Der „Kunstmaler“ betätige sich künstlerisch und nicht handwerklich, weil der Schwerpunkt der Tätigkeit im kreativen Schaffen und nicht im Einsatz manuell-technischer Fähigkeiten bestehe.
Die Kammer sei der Auffassung, dass sich im Hinblick auf Tätowierungen, wie sie von der Klägerin gestochen würden, die allgemeine Verkehrsauffassung geändert habe (vgl. Urteil der Kammer vom 18. Juni 2020 – S 48 KR 1921/19 –, juris). Über den sich seit den 80er Jahren entwickelten anhaltenden Modetrend hinaus, nach dem Tattoos kein Phänomen der Unterschicht und der Außenseiter mehr seien, sondern als Ausdrucksmöglichkeit für Exklusivität, Selbstdarstellung, Abgrenzung, sexueller Reiz, Schmuck, Protestsymbol oder politische Stellungnahme dienten, habe sich mittlerweile eine neue kreative Tätowierszene etabliert. An Hochschulen ausgebildete Künstlerinnen und Künstler verstünden sich nicht mehr als Dienstleister, sondern als Künstler und ihre Kunden als Leinwände; ihnen werde die Haut des menschlichen Körpers zur Schreib- und Malfläche. Bei diesen Kreativen habe sich der Schwerpunkt von einer handwerklich-technischen Ausführung zu einer künstlerischen Betätigung im Sinne einer freien schöpferischen Gestaltung entwickelt, in der Intuition, Fantasie und Kunstverstand (vgl. BVerfGE 30,173,188) zusammenwirkten, inspiriert von Kunstgeschichte und Grafikdesign. Merkmale dieser Tattookünstler seien ein unverwechselbarer Stil, der sich gestalterisch auf hohem Niveau bewege mit Motiven jenseits des Mainstreams sowie Tattoozeichnungen, die von Genauigkeit und Feinheit geprägt seien und nicht seriell verwendet würden. Hierzu gehörten u.a. als bekannteste Vertreter in Deutschland C.M., der für seine abstrakten Motive bekannt sei sowie S.P. und V.M., die einen eigenen „Underground-Stil“ geschaffen hätten. Diese und weitere populäre Tattookünstler veranlassten Menschen, viel Geld auszugeben und weite Strecken zu reisen, um das Tattoo eines speziellen Tätowierers auf ihrem Körper zu tragen (https://www.goethe.de/de/kul/mol/20885263.html).
Möge im Jahr 2007 die Erkenntnis noch zutreffend gewesen sein, dass der Kunstmaler nach der allgemeinen Verkehrsauffassung im Gegensatz zum Tätowierer seinen Schwerpunkt im kreativen Schaffen habe, der Tätowierer hingegen in der handwerklichen Ausfertigung, könne dies in dieser Eindeutigkeit im Jahr 2022 nicht mehr bestätigt werden. So sei die Gattung Tattoo „museumsreif“ geworden, wie Ausstellungen hierzu belegten. Die Ausstellung „gestochen scharf“ – Tätowierung in der Kunst – in der Villa Rot vom 24. März bis zum 28. Juli 2013 (https://www.villa-rot.de/de/archiv-2-2/gestochen-scharf/) habe sich z.B. zur Aufgabe gemacht, angewandte Kunst praktizierender Tätowierer vorzustellen. Im Begleitheft zur Ausstellung „Tattoo“ im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG) heiße es: „Die Ausstellung «Tattoo» widmet sich alten Traditionen und neuen Geschichten. Der Blick richtet sich auf die lebendige, innovative und vielfältige Tattoo-Kultur, mit Augenmerk auf künstlerische, handwerkliche und kulturgeschichtliche Fragen. Die Schau präsentiert internationale Positionen aus diversen Perspektiven und nimmt aktuelle Diskussionen auf. Erstmals umfasst eine Ausstellung diese breite Palette von Bezügen und zeigt das Phänomen mit Fokus auf Kunst und Design; sind die bleibenden Bilder, Schriften und Symbole der Tattoos doch vielfach Inspirationsquelle für Künstler/innen und Designer/innen. So ist die gegenseitige Beeinflussung von Kunst, traditioneller und gelebter Tätowierkunst sowie visueller Gestaltung ebenso Thema der Ausstellung“ (https://www.mkg/hamburg.de/fileadmin/user_upload/ MKG /Ausstellung/Aktuell/MKG_Tattoo_ Beglleitheft_DE_neu.pdf). Bei der Ausstellung „Tattoo-Legenden – Christian Warlich auf St. Pauli“des Museums für Hamburgische Geschichte vom 27. November 2019 bis zum 25. Mai 2020, weltweit der ersten Ausstellung, die sich monothematisch mit einem Tätowierer befasst habe, habe es sich zwar um eine historische Ausstellung gehandelt, dennoch seien auch dort seine Vorlagen, die bereits als Buchform erschienen seien, in den Fokus kunstwissenschaftlicher Betrachtung genommen worden (O. Wittmann: Tattoos in der Kunst, 2017).
Der Auffassung der Beklagten, dass die Anerkennung der Klägerin als Künstlerin davon abhängig gemacht werden müsse, ob sie in fachkundigen Kreisen als Künstlerin anerkannt und behandelt werde, sei deshalb nicht näherzutreten. Denn sei ein Teil der Gattung Tattoo per se künstlerisch geprägt, nämlich der Teil, in denen künstlerisch ausgebildete Tätowierer, die mit anderen Medien als Künstler oder Illustrator in Künstlerkreisen anerkannt seien, bedürfe es einer Anerkennung in Kreisen bildender Künstler, wie sie zum Beispiel vom Bundesverband der bildenden Künstler vertreten würden, nicht mehr.
Bereits in der Entscheidung des BSG (Urteil vom 7. Juli 2005 – B 3 KR 29/04 R –, SozR 4 -5425 § 24 Nr. 7) sei ein Vergleich zwischen den „klassischen“ Berufen des Grafikdesigners, Fotodesigners und Layouters und der neuen Tätigkeit des Webdesigners gezogen worden, wonach sich zeige, dass sich die Aufgaben und Tätigkeiten in diesen Berufsfeldern weitgehend deckten und sich im Wesentlichen nur durch das zu bearbeitende Medium unterschieden. Aus diesem Grund sei der Webdesigner den Katalogberufen „Grafikdesigners, Fotodesigners und Layouter“ gleichzustellen. Der Umstand, dass der Web-Designer seinen Entwurf eigenhändig computertechnisch umsetze, habe das BSG indes nicht an der Anerkennung als Künstler gehindert (Wagner, jurisPR-SozR 17/2007 Anm. 5). Im Falle der Klägerin werde die klassische Bearbeitung von Papier mit dem Stift durch das Stechen der Haut mit der Tätowiermaschine ersetzt.
Das BSG habe in der maßgeblichen Entscheidung (B 3 KS 2/07 R) darauf abgestellt, dass Tätowierer sich nicht auf das Entwerfen und Zeichnen von Tattoo-Motiven und Vorlagen beschränkten, sondern ihr Einkommen aus dem Einsatz manuell-technischer Fertigkeiten bezögen. Die vom BSG vorausgesetzte Schwerpunktbildung auf die handwerkliche Umsetzung könne im Falle der Klägerin nicht angenommen werden, denn sie habe die Kammer davon überzeugt, eine klassische Tätigkeit als Illustratorin auf der Haut ihrer Kunden fortzuführen. Sei eine Tätowiererin, wie die Klägerin, diplomiert und in ihren Kreisen bereits eine anerkannte Künstlerin, bleibe sie auch dann Künstlerin, wenn sie lediglich einen Wirkbereich ihrer Kunst mittels handwerklicher Tätigkeit auf und in der Haut verewige (Landessozialgericht <LSG> für das Saarland, Urteil vom 9. Juni 2020 – L 1 KR 23/19 –, juris).
Bestätigt werde die Anerkennung der Klägerin in Künstlerkreisen durch ihre Teilnahme an zwei internationalen Ausstellungen mit einer Tuschezeichnung. Ihre künstlerische Qualifikation werde des Weiteren belegt durch die Ausbildung an einer Kunsthochschule sowie den vorhergehenden Tätigkeiten in den anerkannten künstlerischen Berufen der Trickfilmzeichnerin, der Web-Designerin und der Illustratorin. Ihre Werke aus dem Bereich der Tuschezeichnung (Ink-Painting) ähnelten in den Motiven denen, die sie als Tattoo steche und die nur aufgrund unterschiedlicher Beschaffenheit der Untergründe abgewandelt würden. Damit unterschieden sich die auf der Leinwand realisierten Illustrationen der Klägerin nicht grundlegend von den als Tattoo auf der Haut umgesetzten Entwürfen. Dabei handle es sich nach ihrem glaubhaften Vorbringen um freie künstlerische Gestaltung, bei denen die Kunden lediglich eine Idee vorgeben dürften, die Klägerin jedoch ein Unikat entwerfe, welches anderen Künstlern nicht zur Verfügung gestellt werde. In der Umsetzung eines Entwurfs der Klägerin lasse sich das von ihr erwünschte Ergebnis nach ihren überzeugenden Darstellungen nämlich nur durch sie eigenhändig handwerklich umsetzen. Auch dieser Umstand spreche gegen eine schwerpunktmäßig handwerkliche Tätigkeit.
Damit liege eine Vergleichbarkeit der Arbeiten der Klägerin als Tattookünstlerin mit denen einer Grafik-Designerin, Illustratorin oder Kunstmalerin vor. Sie habe ihre gestalterische Ausbildung an einer Kunsthochschule und berufliche Tätigkeit als Illustratorin für andere Medien in ihr Betätigungsfeld als Tätowiererin übernommen. Zum Teil in vollständig freier schöpferischer Gestaltung, zum Teil nach gestalterisch auslegungsfähigen Vorgaben der Kunden habe die Klägerin einen eigenen, wiedererkennungsfähigen, illustrativen Stil und damit eine spezielle Ästhetik als Künstlerin entwickelt. Diese individuelle Ausdrucksart könne auch nur durch die Klägerin eigenhändig ausgeführt werden, weil es entscheidend – wie bei der Illustratorin überhaupt – auf die spezifische Umsetzung, den „eigenen Pinselstrich“ ankomme.
Damit habe sie das konventionelle Berufsbild des Tätowierers, der Körperschmuck als modisches Accessoire technisch-manuell auf die Haut aufbringe, verlassen.
Gegen dieses ihr am 9. August 2022 zugestellte Urteil richtet sich die am 29. August 2022 eingelegte Berufung der Beklagten.
Bereits die grundsätzliche Annahme des SG, wonach sich im Hinblick auf die streitigen Tätowierungen die allgemeine Verkehrsauffassung geändert habe, werde von der Beklagten nicht geteilt. Selbst wenn sich die gesellschaftliche Akzeptanz von Tätowierungen und der Grad der Professionalisierung und Vermarktung seit der insoweit maßgeblichen Entscheidung des BSG aus dem Jahr 2007 verändert haben sollten, lasse sich allein hieraus noch keine in der Allgemeinbevölkerung überwiegende Meinung ableiten, wonach die Tätigkeit des Tätowierens Kunst und kein (Kunst-)Handwerk sei. Auf ein ggf. geändertes Selbstverständnis der Tätowierer, die sich mitunter selbst als Künstler ansähen, komme es hierbei nicht an. Ebenso dokumentierten kulturhistorische Ausstellungen in Museen oder gegenwartsbezogene Ausstellungen zum Thema Tätowierungen keine vorherrschende Meinung in der Allgemeinheit, sondern stellten die Thematik in einem historischen, gesellschaftlichen, sozioökonomischen und kulturellen Kontext dar. Auf eine allgemeine Anerkennung als Kunst könne hieraus nicht geschlossen werden.
Das BSG habe in der Entscheidung aus dem Jahr 2007 die Ablehnung der Kunstausübung im Ergebnis damit begründet, dass der Schwerpunkt des Tätowierens trotz einer kreativen Komponente auf dem Einsatz manuell-technischer Fähigkeiten liege, das Tattoo mithin nicht bloßes Nebenprodukt des zeichnerischen Entwurfes sei, sondern gerade Kern der Tätigkeit. Die entgegenstehende Auffassung des SG, wonach sich bei einer so bezeichneten „neuen kreativen Tätowierszene“ der Schwerpunkt von einer handwerklich-technischen Ausführung zu einer künstlerischen Betätigung im Sinne einer freien schöpferischen Gestaltung entwickelt habe, überzeuge nicht. Zum einen sei schon unklar, woran das SG die Zugehörigkeit der Klägerin zu dieser „neuen kreativen Tätowierszene“ festmachen wolle. Das SG nenne hierzu kein taugliches Abgrenzungskriterium. Letztlich komme es hierauf nicht an, da jedenfalls im Falle der Klägerin angesichts deren Angaben zur Zusammensetzung ihres Arbeitseinkommens objektiv keine derartige Schwerpunktverlagerung stattgefunden habe. Dieser liege in der Umsetzung des Entwurfs bzw. der Herstellung der Tätowierung.
Auch soweit das SG zu dem Ergebnis gelange, dass für die Klägerin als Tätowiererin – abweichend von der entgegenstehenden Rechtsprechung des BSG – keine Anerkennung als Künstlerin in fachkundigen Kreisen erforderlich sei, da sie bereits als Illustratorin und Malerin in Künstlerkreisen anerkannt sei, überzeuge dies nicht. Aus Sicht der Beklagten seien die Tätigkeiten der Klägerin als Illustratorin/Malerin und als Tätowiererin voneinander abzugrenzen, eine – unterstellte – Anerkennung der Klägerin in einem einzelnen Tätigkeitsfeld führe nicht automatisch zu einer Anerkennung als Künstlerin für den gesamten Tätigkeitsbereich. Die Klägerin habe als Malerin mit Tuschezeichnungen an Kunstausstellungen teilgenommen. Es seien jedoch im Rahmen dieser Ausstellungen keine Entwürfe oder Fotografien der Tätowierungen der Klägerin gezeigt worden, die Klägerin sei auch nicht als Tätowiererin eingeladen worden oder als Malerin, die sowohl Leinwand als auch Haut als Medium nutze. Die Ausstellungen zeigten vielmehr keinen Zusammenhang zu der klägerischen Tätigkeit als Tätowiererin und könnten daher auch keine entsprechende Anerkennung als Künstlerin in fachkundigen Kreisen belegen.
Schließlich weist die Beklagte darauf hin, dass die Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 9. Juni 2022 erstmalig mitgeteilt habe, das Studio „C1“ gemeinsam mit einem Geschäftspartner zu betreiben. Im Meldebogen habe die Klägerin noch angegeben, keine andere selbstständige Tätigkeit oder Gewerbe auszuüben. Sofern aus der vorgenannten Tätigkeit gewerbliche Einnahmen – z.B. durch die Ausrichtung von Veranstaltungen, Verkauf von Bekleidung und Getränken – erzielt werden sollten, dürfte dies für die Prüfung der Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 5 KSVG von Relevanz sein.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. Juni 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Dass eine Ausdrucksform wie das Tätowieren mittlerweile Gegenstand einer Vielzahl verschiedener Formen von Ausstellungen sei, dürfte durchaus auf die Bedeutung dieser Ausdrucksform als Kunstform und die entsprechende gesellschaftliche Akzeptanz schließen lassen. Hinzu komme, dass sich bei bildender Kunst in aller Regel die kreative Tätigkeit nicht von der handwerklichen Tätigkeit trennen lasse. Die Anfertigung des Entwurfs diene der Orientierung und auch Veranschaulichung gegenüber dem Werkbesteller. Große Teile des Kerns der künstlerischen Tätigkeit lägen im Bereich der bildenden Kunst stets in der Ausfertigung des konkreten Werkes. Eine zu enge Auslegung des Kunstbegriffs des KSVG verbiete sich schon aus verfassungsrechtlichen Gründen. Letztlich sei auch hier der fragliche Kunstbegriff eine einfachgesetzliche Ausprägung von Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG). Die Klägerin betont, dass das Tätowieren nur eine der verschiedenen Ausdrucksformen sei, die sie für die Schaffung ihrer Kunst wähle.
Für das nächste Jahr plane sie – wiederum in der Galerie in T1 – eine weitere Ausstellung und habe sich beworben für den „J. Prize“ in E.. Des weiteren wolle sie an der Fotografieausstellung „F1“ in den U. teilnehmen.
Die Klägerin erklärt veranschaulichend, sie entwerfe die Tattoos vollständig vorab selbst und schätze den künstlerischen Anteil am Tattoo als sehr hoch ein, er liege – auch wenn dies schwer zu beziffern sei – gefühlt im Verhältnis zur Ausführung des Tattoos bei 80 % zu 20 %. Im Unterschied zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Antrag bei der Beklagten gestellt habe, habe sich der Anteil ihrer Einkünfte außerhalb des Tätowierens auf geschätzte 20 bis 25 % ihrer Gesamteinkünfte erhöht.
Die Klägerin ergänzt, sie habe mir schon einmal überlegt, professionelle Tätowierer ihre Entwürfe tätowieren zu lassen. Davon habe sie bisher aber abgesehen, weil die Ausführung der Arbeit auf der Haut auch künstlerisches Verständnis für ihre Entwürfe benötige.
Sie trägt vor, Mitglied bei einer Illustratorenorganisation zu sein; andere Kunstberufsverbände kenne sie noch nicht, würde aber gerne Mitglied werden.
Schließlich erklärt die Klägerin, dass sie die Tätigkeit im Rahmen der GbR „C1“ zum Zeitpunkt der Abgabe des Meldebogens noch nicht ausgeübt habe. Zum jetzigen Zeitpunkt gebe es keine Einnahmen, die im Hinblick auf § 5 Abs. 1 Nr. 5 KSVG relevant wären.
Am 22. Dezember 2022 hat der Senat über die Berufung mündlich verhandelt. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Sitzungsniederschrift und den weiteren Inhalt der Prozessakte sowie der ausweislich der Sitzungsniederschrift beigezogenen Akten und Unterlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte (§§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist unbegründet. Das SG hat der zulässigen Anfechtungs- und Feststellungsklage zu Recht und mit zutreffender Begründung stattgegeben. Die Klägerin unterliegt ab dem 28. Mai 2020 der Versicherungspflicht nach dem KSVG in der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung.
Der Senat nimmt Bezug auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG).
Der Vortrag der Beklagten im Berufungsverfahren gibt keinen Anlass zu einer hiervon abweichenden rechtlichen Bewertung.
Entgegen der Auffassung der Beklagten geht der erkennende Senat mit dem SG zunächst davon aus, dass sich in der Tat spätestens seit der Entscheidung des BSG aus dem Jahr 2007 die allgemeine Verkehrsanschauung in Bezug auf Tätowierungen geändert hat. Dies gilt jedenfalls für die Art zu tätowieren, wie es u.a. durch die Klägerin erfolgt. Hierbei werden nicht vorhandene und immer wieder verwendete Vorlagen auch anderer Ersteller der Vorlagen auf die Haut übertragen, sondern individuelle Tattoos im Sinne einer über die rein technisch-manuelle Gestaltung hinausgehenden schöpferischen Leistung erstellt. Die so tätigen Tätowierer/innen verfügen häufig – so auch die Klägerin – über eine Hochschulausbildung in einem künstlerischen Bereich und einen unverwechselbaren Stil. Deutlich wird die Änderung der Verkehrsanschauung an öffentlichen Ausstellungen, in denen der künstlerische Charakter dieser Art des Tätowierens betont wird. Das SG hat bereits genannt die Ausstellung „gestochen scharf – Tätowierung in der Kunst“ im Jahr 2013 in der Villa Rot, einem Ausstellungshaus für internationale zeitgenössische Kunst (https://de.wikipedia.org/wiki/Museum_Villa_Rot, abgerufen am 12. Dezember 2022), die Ausstellung „Tattoo-Legenden“ – Christian Warlich auf St. Pauli“ 2019/2020 im Museum für Hamburgische Geschichte sowie die Ausstellung „Tattoo“ 2015 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Deutlich werden die Anerkennung der beschriebenen Tätowierer/innen als Tattookünstler/innen in künstlerischen Kreisen und damit auch eine geänderte Verkehrsanschauung darüber hinaus durch Veröffentlichungen u.a. in feuilletonistischen Medien. So berichtet das Onlinemagazin für Kunst und Geschichte „Portal Kunstgeschichte“ über die vorgenannte Ausstellung in der Villa Rot mit der Einleitung „Von wegen Papier, Leinwand, Karton oder Holz: Zeitgenössische Kunst geht unter die Haut! Wie bildende Künstler die menschliche oder tierische Schreib- bzw. Malfläche nutzen, …“ (https://www.portalkunstgeschichte.de/meldung/gestochen_scharf___taetowierung_in_der_kunst__museum_villa_rot__burgrieden_rot__bis_28__juli_2013-5808.html). Anlässlich des bereits vom SG genannten Buchs von O. Wittmann, „Tattoos in der Kunst“, 2017, das auf dessen Dissertation beruht, schreibt z.B. das digitale Magazin „postmondän“ über „Tätowierungen als Kunstwerke“ und die „Haut als Bildträger“ (https://postmondaen.net/2017/09/10/ole-wittmann-tattoos-in-der-kunst/).
Des Weiteren übersieht die Beklagte, dass Art. 5 Abs. 3 GG eine nicht zu enge Auslegung des Kunstbegriffs erfordert, wie es der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht, und dass es sich beim Tätowieren nicht um ein von der künstlerischen Tätigkeit nach dem KSVG zu unterscheidendes Handwerk handelt (s. hierzu Wagner, jurisPR-SozR 24/2006 Anm. 5 und 17/2007 Anm. 5). Dem Senat ist nicht ersichtlich, was die Tätigkeit des Tätowierens von dem Typus der Tätigkeiten des bildenden Künstlers, insbesondere des Malers und erst Recht des Bildhauers, grundsätzlich unterscheiden soll.
Aber auch wenn man sich im Rahmen der BSG-Prämissen der Entscheidung aus dem Jahr 2007 bewegte, bliebe die Berufung der Beklagten ohne Erfolg. Ähnlich wie der Kläger in dem vom LSG für das Saarland – soweit ersichtlich – rechtskräftig entschiedenen Fall (Urteil vom 9. Juni 2020 – L 1 R 23/19 –, juris, s.a. Anm. Stäbler, NZS 2021, 574) handelt es sich bei der hiesigen Klägerin nicht um eine Tätowiererin, die ihre Vorlage selbst entwirft und damit ihrer grundsätzlich „handwerklich“ geprägten (Erwerbs-)Tätigkeit eine gewisse künstlerische Komponente voranstellt, sondern um eine diplomierte und in ihren Kreisen bereits anerkannte Künstlerin, die lediglich einen Wirkbereich ihrer Kunst mittels handwerklicher Tätigkeit auf und in der Haut verewigt. Sie hat kein angestammtes handwerkliches Berufsfeld des Tätowierers verlassen, sondern ein solches zu keinem Zeitpunkt begründet. Die Klägerin ist seit ihrem Studium in ihrem Gesamtwirken künstlerisch tätig und mit dieser einheitlich zu bewertenden Kunst – lediglich in ihren dargestellten Medien variierend – als Künstlerin im Sinne der Rechtsprechung anerkannt. Die Klägerin entwickelt und entwirft bildende Kunst, die sich nicht in verschiedene Bereiche einteilen lässt. Daher kann vorliegend gerade nicht zwischen dem künstlerischen Ansatz der Klägerin, die etwa auf Papier, digital oder in anderen Objekten, hier insbesondere Puppen, verwirklicht wird, und dem was letztlich in die Haut eingestochen wird, unterschieden werden. Die Kunstwerke der Klägerin sind – davon hat sich der erkennende Senat durch Inaugenscheinnahme insbesondere der Internetauftritte der Klägerin überzeugen können – einheitlich und von einer derselben Stilrichtung geprägt., die sie selbst zutreffend „dark and gloomy fantasy art“ nennt. Hierfür ist die Klägerin auch in der Fachwelt anerkannt, wie ihre Teilnahmen an Ausstellungen mit Illustrationen und Puppen und zum Teil Prämierungen zeigen, wobei durchaus auch eine ausdrückliche Anerkennung der Tätowierkunst selbst durch andere als Tattookünstler feststellbar ist (Blog der Künstlerin S.F., Empfehlungsschreiben der Kunststudentin, s. Vorbringen der Klägerin im Widerspruchsverfahren). Hinzu kommt die angegebene Mitgliedschaft in einer Illustratorenorganisation. Wie das LSG für das Saarland zu Recht ausführt, zerstört eine Vorarbeit auf Papier die Anerkennung des Gesamtkunstwerks durch Fertigstellung auf bzw. in der Haut nicht. Denn auch anerkannte Künstler/innen haben vor dem Erschaffen ihrer diffizilen Werke ein oder gar mehrere Entwürfe zu Papier gebracht, bevor die Kunst schließlich – ggf. sogar überwiegend handwerklich (wie z.B. das Deckenfresko Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle) – und damit allgemein zugänglich gemacht wurde.
Der demnach bestehenden Versicherungspflicht der Klägerin nach § 1 KSVG steht weder eine Versicherungsfreiheit nach § 3 noch nach § 4 oder § 5 KSVG entgegen. Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob die Klägerin seit der erwerbsmäßigen Aufnahme ihrer Tätigkeit im Jahr 2020 das Mindesteinkommen im Sinne des § 3 Abs. 1 S. 1 KSVG erreicht hat, weil sie zum einen noch Berufsanfängerin im Sinne des § 3 Abs. 2 S. 1 KSVG ist und zum anderen nach § 3 Abs. 3 S. 2 KSVG ein Unterschreiten der Grenze in den Jahren 2020 bis 2022 unberücksichtigt bleibt. Das Gericht hat auch keine Anhaltspunkte dafür, dass entgegen den Angaben der Klägerin die selbstständige Tätigkeit in Gestalt des (Mit-)Betreibens des Studios „C1“ mehr als geringfügig im Sinne des § 8 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
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UPDATE: Die KSK hat Revision zum Bundessozialgericht eingelegt. Dort wird der Fall voraussichtlich am 27.06.2024 verhandelt. Die Verhandlung ist öffentlich. RA Lars Rieck wird als Zuschauer am Termin teilnehmen.
So manches Maori Tattoo, Aquarell Tattoo oder anderer Art sind wahre Kunstwerke. Und vermutlich sind auch viele Tattoo Studios dafür bekannt. Dass es gesetzlich allerdings so festgehalten ist, dass Tätowieren grundsätzlich eher handwerklicher Natur ist, ist zwar beklagenswert. Aber juristisch ist da kaum was zu machen.