
Urteil des Sozialgericht Hamburg vom 9. Juni 20222, Az. S 48 KR 1782/21
Urteil
Im Namen des Volkes
In dem Rechtsstreit
Frau ……. ………….. Hamburg
-Klägerin-
g e g e n
Künstlersozialkasse bei den Unfallkasse des Bundes, Gökerstraße 14, 26384 Wilhelmshaven
– Beklagte –
hat die Kammer 48 des Sozialgerichts Hamburg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. Juni 2022 durch
die Richterin am Sozialgericht …, den ehrenamtlichen Richter ….. und den
den ehrenamtlichen Richter ….
Für Recht erkannt:
Der Bescheid der Beklagten vom 03.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2021 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Klägerin in ihrer Tätigkeit als Tattookünstlerin und Illustratorin bei der Beklagten gemäß den Vorschriften der Künstlersozialversicherung ab dem 28.05.2020 in der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Versicherungspflicht der Klägerin in ihrer Tätigkeit als Tattoo-Artist nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) streitig.
Die 1987 in Russland geborene und seit 2015 in Deutschland lebende Klägerin hat 2010 ein Studium an der Universität Moskau als grafische Designerin sowie als Fernseh- und Filmdesignerin mit dem Diplom abgeschlossen. In der Zeit von Mai 2009 bis November 2016 war sie u.a. als Illustratorin im Bereich Spieleanimation angestellt und auch als Freelancerin tätig. Daneben stellte sie individuelle kleine Puppen her, die sie auf Märkten und über das Internet veräußerte. Seit 2017 tätowiert sie in einem Tattoostudio, zunächst in Berlin und seit Juni 2019 im Kodiak Tattoo Studio Hamburg und fertigt nebenher Logo-Designs, Illustrationen und Animationen für die Werbung.
Neben ihrer Tätigkeit als Tattoo-Artist stellte die Klägerin in einem Studio „Resident Creative in der Zeit zwischen dem 31. Juli bis zum 31. August 2021 eine künstlerische Installation aus. Auf der internationalen Ausstellung „Venice International Art Fair 2021“ und der „Swissart Expo 21“ präsentierte sie jeweils eine Tuschezeichnung. Im Oktober 2022 ist eine Ausstellung in Japan im Rahmen eines Kulturaustausches mit Russland geplant.
Die Klägerin beantragte bei der Beklagten am 20. Mai 2020 die Aufnahme in die Künstlersozialversicherung und gab hierbei an, im Bereich bildende Kunst selbstständig und erwerbsmäßig tätig zu sein und im laufenden Kalenderjahr voraussichtlich ein Jahresarbeitseinkommen in Höhe von 25.000 € zu erzielen. Beigefügt waren. ein Lebenslauf der Vertrag mit dem Kodiak-Tattoo Studio über die Studionutzung sowie ein Vertrag mit der Fa. Beiersdorf über ein Projekt zur Herstellung von Tattoos für von der vorgenannten Fa. ausgeloste Preisgewinner (wannadoo).
Mit Bescheid vom Juli 2020 stellte die Beklagte fest, dass die Klägerin nicht der Versicherungspflicht nach dem KSVG unterliege. Die Tätigkeit der Klägerin könne nicht als künstlerisch / publizistisch im Sinne dieses Gesetzes angesehen werden, weil der Schwerpunkt der Tätigkeit nach eigenen Angaben im Bereich der Tätigkeit als Tätowiererin liege. Tätowierer seien nur dann bildende Künstler im Sinne von § 2 KSVG, wenn sie mit ihren Arbeiten Aufmerksamkeit und Anerkennung über den eigenen Kundenkreis und über die Szene der Tätowierer hinaus erzielten. Fehle es an objektiven Hinweisen auf eine Anerkennung und gleichwertige Behandlung gerade in den maßgebenden Kreisen der bildenden n Künstler (z. B. Erwähnung in Kunst-Fachmagazinen, Präsentationen auf Kunstaufstellungen, Erwähnung in Künstlerlexika) liege keine künstlerische Tätigkeit vor.
Hiergegen erhob die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten am 3. August 2020 Widerspruch Zur Begründung verwies er auf zahlreiche im Bereich der visuellen Kunst erhaltenen Preise (1. Preis bei der 23. Lyoner Tattoo Convention 2021 „Best Character“ bei der „Mythical Doll Expo“, Moskau, 2014), auf eine Veröffentlichung „Battle of the frozen Lake, Illustrationen 2017 sowie auf eine Tätigkeit für die Fa. Propper (Illustrationen und Animationen für eine App und eine Webseite). Die Arbeiten der Klägerin würden nicht nur im Kreis ihrer Kunden geschätzt, sondern seien bei Ausstellung als auch bei zahlreichen Veröffentlichungen vertreten. Neben dem Tätowieren sei die Klägerin bereits sehr erfolgreich mit verschiedenen Formen der Illustration.
Auf Nachfrage der Beklagten gab die Klägerin an, ca. 85 % ihrer Einnahmen durch das tätowieren und ca. 15 % durch Malerei und Illustration zu erzielen.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 2021 zurück. Zur Begründung ist ausgeführt, dass Tätowierer nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 28.2.2007 (AZ B 3 KR 2/07R) nur dann bildende Künstler im Sinne von § 2 KSVG seien wenn mit ihren Arbeiten Aufmerksamkeit und Anerkennung über den eigenen Kundenkreis und über die Szene der Tätowierer hinaus erzielt würden. Eine künstlerische Tätigkeit im Sinne des KSVG liege dagegen nicht vor, wenn es an objektiven Hinweisen auf eine Anerkennung und gleichwertige Behandlung gerade in den maßgeblichen Kreisen der bildenden Künstler fehle (z. B. Erwähnung in Kunstfachmagazinen, Präsentationen auf Kunstausstellungen, Erwähnung in Künstlerlexika). Nicht ausreichend für den Nachweis einer künstlerisch geprägten Tätigkeit seien dagegen beispielsweise Dankesschreiben zufriedener Kunden, eine hohe Wertschätzung bei Kollegen, die Erwähnung in einer Fachzeitschrift, die einzelne Vorlage von Gutachten oder Stellungnahmen, der Sachvortrag, dass nicht der Schablone gearbeitet werde. Die Teilnahme an sogenannten „Conventions“ stelle keine Anerkennung in maßgeblichen fachkundigen Kreisen im Bereich der bildenden Kunst dar, es sei denn, die Jury setzte sich aus Vertretern der bildenden Kunst zusammen. Bei einem -wie hier- aus unterschiedlichen Tätigkeiten zusammengesetzten Berufsbild könne von einem künstlerischen Beruf nur dann ausgegangen werden, wenn die künstlerischen Elemente das Gesamtbild prägten, Kunst also den Schwerpunkt der Berufsausübung bilde. Dabei sei vorrangig auf die jeweilige Vergütung in den unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen abzustellen. Bei dem hier zu bewerten Tätigkeitsprofil überwiege der künstlerische Aspekt nicht.
Am 10.5.2019 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Hamburg erhoben und unter Wiederholung ihres Vorbingens im Widerspruchsverfahren ergänzt, dass die tätowierten Darstellungen nach Farbe- und Formgebung sowie hinsichtlich des gestalterischen Niveaus anerkannter Kunstmalerei in nichts nachstünden. Der individuelle Stil der Klägerin komme genauso zum Tragen wie ihre Kreativität. Sie entsprächen auch dem materiellen Kunstbegriff des Bundesverfassungsgerichtes, in welchem das kennzeichnende Merkmal der Kunst sei, dass durch freie schöpferische Gestaltung bestimmte Eindrücke, Erfahrungen, und Erlebnisse des Künstlers zum Ausdruck gebracht werden würden. Die Klägerin bringe in ihre Gestaltungen, die als Vorlage für die gestochenen Tattoos dienten, sowohl eigene reflektierte Stimmungen und Eindrücke als auch spezielle ästhetische Vorlieben fern des Mainstream ein. Für die Beurteilung, ob es sich um eine künstlerische Tätigkeit handele, dürfe nicht allein auf das Medium abgestellt werden. Ölfarben und Leinwände seien, ohne den Prozess des kreativen Malens und den Kontext, in denen das aus ihnen geschaffene Werk gesetzt werde, auch nur profane Kohlenstoffverbindungen. Die Klägerin werde letztlich gerade wegen ihres hochindividuellen und gestalterisch anspruchsvollen Stils nachgefragt.
Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 03.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2021 aufzuheben und festzustellen, dass die Klägerin in ihrer Tätigkeit als Tattookünstlerin und Illustratorin bei der Beklagten gemäß den Vorschriften der Künstlersozialversicherung ab dem 28.05.2020 in der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf ihre Gründe aus dem Widerspruchsbescheid und trägt ergänzend vor, dass das Bundessozialgericht darauf abgestellt habe, dass nicht nur die eigentliche Grafik geschuldet werde, sondern auch die handwerksgemäße Umsetzung. Diese sei danach grundsätzlich nicht als künstlerisch einzustufen, es sei denn, eine sogenannte Anerkennung in den Fachkreisen der bildenden Kunst (in der Eigenschaft als Tätowierer) sei belegt. Die nachgewiesene Teilnahme an Ausstellungen beträfen den Bereich der erwerbsmäßigen Tätigkeit als Malerin und Illustratoren, aus denen die Klägerin lediglich 15 % ihres Arbeitseinkommens erziele.
In der mündlichen Verhandlung am 9. Juni 2022 hat die Klägerin Originalentwürfe, die als Vorlage für Tatoos dienten als auch Fotos von den daraus entstandenen Tattoos gezeigt. Es werde zunächst ein Entwurf erstellt, der sich manchmal nach Kundenwünschen richte, sich manchmal aber auch erst im Gespräch entwickele. Entwürfe von anderen Tattoos als Vorlage seien nicht erwünscht, sondern eher Bilder oder Fotografien als Inspiration, die den Kunden gefielen. Der Entwurf würde dann noch einmal mit dem Kunden besprochen und erst dann fein herausgearbeitet, weil der Ort der Platzierung sowie die Beschaffenheit der Haut einen Gestaltungsspielraum übrigließen. Zwischen der Tuschemalerei und den Tattoos bestehe neben einer Ähnlichkeit der Motive ein Zusammenhang in der Weise, dass die Tuschezeichnungen nicht an einen anderen Tattookünstler weitergegeben werden würden, weil nur die Klägerin selbst in der Lage sei, ihre Vorstellungen auch im Wege des Tattoos auszudrücken, wie es in der Illustration entworfen worden sei. Eine andere Art zu arbeiten stelle sich so dar, dass sie einem Kunden mit einem Stift ein Motiv auf die Haut male, und es dann danach steche. Dabei handele es sich um freie Entwürfe, die mit den Kunden abgestimmt seien.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden, und begründet. Die Beklagte hat zu Unrecht die Versicherungspflicht der Klägerin im Hinblick auf ihre Tätigkeit als Tattookünstlerin nach dem KSVG verneint. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind daher rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten und waren daher aufzuheben.
Rechtsgrundlage für die Feststellung der Versicherungspflicht ist § 1 KSVG. Hiernach werden selbstständige Künstler und Publizisten in der allgemeinen Rentenversicherung, in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversicherung versichert, wenn sie die künstlerische oder publizistische Tätigkeit erwerbsmäßig und nicht nur vorübergehend ausüben und im Zusammenhang mit der künstlerischen oder publizistischen Tätigkeit nicht mehr als einen Arbeitnehmer beschäftigen, es sei denn, die Beschäftigung erfolgt zur Berufsausbildung oder ist geringfügig im Sinne des § 8 SGB IV. Nach § 25. 1 KSVG ist Künstler im Sinne dieses Gesetzes, wer Musik, darstellende oder bildende Kunst schafft, ausübt oder lehrt. Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin zur Überzeugung der Kammer erfüllt, denn die Tätigkeit der Klägerin lässt sich dem Bereich der bildenden Kunst im Sinne des § 2 S. 1 KSVG zuordnen.
Der Begriff der künstlerischen Tätigkeit ist aus dem Regelungszweck des KSVG unter Berücksichtigung der allgemeinen Verkehrsauffassung und der historischen Entwicklung zu erschließen. Aus den Materialien zum KSVG ergibt sich, dass der Begriff der Kunst trotz seiner Unschärfe auf jeden Fall solche künstlerischen Tätigkeiten umfasst, mit denen sich der „Bericht der Bundesregierung über die wirtschaftliche und soziale Lage der künstlerischen Berufe (Künstlerbericht)“ aus dem Jahre 1975 (BT-Drucks 7/3071) beschäftigt. Der Gesetzgeber hat damit einen an der Typologie von Ausübungsformen orientierten Kunstbegriff vorgegeben, der in aller Regel dann erfüllt ist, wenn das zu beurteilende Werk den Gattungsanforderungen eines bestimmten Kunsttyps entspricht. Bei diesen Berufsfeldern ist das soziale Schutzbedürfnis zu unterstellen, ohne dass es auf die Qualität der künstlerischen Tätigkeit ankommt oder eine bestimmte Werk- und Gestaltungshöhe vorausgesetzt wird (std. Rspr., BSG, Urteil vom 23. März 2006 — B 3 KR 9/05 R , SozR 4-5425 8 2 Nr. 7m.w.N.). Der Künstlerbericht mit seinen Katalogberufen dient allerdings lediglich als Einordnungshilfe, anhand derer selbstständig nachzuvollziehen ist, ob die zu beurteilende Tätigkeit nach den für die Aufstellung des Künstlerberichts maßgebenden Kriterien einem der drei Bereiche künstlerischer Tätigkeit zuzuordnen ist und ob sie weder als Traditions- und Brauchtumspflege noch als (kunst)handwerkliche Tätigkeit — oder auch weil sie dem technischen Bereich zuzuordnen ist — aus dem Schutzbereich des KSVG ausgeschlossen ist. Würde der Bericht die Vielfalt und Dynamik in der Entwicklung künstlerischer oder publizistischer Berufstätigkeit missachten und neuartige Kunstformen ausschließen, stünde dies dem bewusst offengehaltenen Kunstbegriff des § 2 KSVG entgegen (BSG, Urt. v. 20.03.1997 -3 RK 15/96 – „Musikinstrumentenbauer“; BSG, Urt. v. 24.06.1998 -B3KR 13/97 R – „Feintäschner“).
Im Künstlerbericht der Bundesregierung ist weder der Beruf des Tätowierers noch der der Tattookünstlerin verzeichnet. Das BSG ist in seiner Entscheidung vom 28.2.2007 (B 3 KS 2/07 R, juris) zu dem Ergebnis gekommen, dass die Tätigkeit des Tätowierens trotz einer kreativen Komponente -auch ohne Erfassung in der Handwerksordnung eine handwerkliche Tätigkeit sei, weil der Schwerpunkt auf dem Einsatz manuell-technischer Fähigkeiten liege, so dass es nicht der bildenden Kunst im Sinne des § 2 KSVG zugerechnet werden könne. In der Begründung heißt es, der erste kreative Arbeitsschritt diene nur als Vorarbeit zum handwerklichen Arbeitsschritt, der den Schwerpunkt der Tätigkeit bilde und aus dem der Tätowierer in erster Linie sein Einkommen erziele. Tätowierer könnten sich nicht mit einem Maler vergleichen, weil es dabei um die bereits nach allgemeiner Verkehrsauffassung als künstlerisch geltende Tätigkeit des Malens gehe. Der „Kunstmaler“ betätige sich künstlerisch und nicht handwerklich, weil der Schwerpunkt der Tätigkeit im kreativen Schaffen und nicht im Einsatz manuell-technischer Fähigkeiten bestehe.
Die Kammer ist der Auffassung, dass sich im Hinblick auf Tätowierungen, wie sie von der Klägerin gestochen werden, die allgemeine Verkehrsauffassung geändert hat (vgl. Urteil der Kammer vom 18.Juni 2020, S 48 KR 1921/19: Juris). Über den sich seit den 80er Jahren entwickelten anhaltenden Modetrend hinaus, nach dem Tattoos kein Phänomen der Unterschicht und der Außenseiter mehr sind, sondern als Ausdrucksmöglichkeit für Exklusivität, Selbstdarstellung, Abgrenzung, sexueller Reiz, Schmuck, Protestsymbol oder politische Stellungnahme dienen, hat sich mittlerweile eine neue kreative Tätowierszene etabliert. An Hochschulen ausgebildete Künstlerinnen und Künstler verstehen sich nicht mehr als Dienstleister, sondern als Künstler und ihre Kunden als Leinwände: ihnen wird die Haut des menschlichen Körpers zur Schreib- und Malfläche. Bei diesen Kreativen hat sich der Schwerpunkt von einer handwerklich/technische Ausführung zu einer künstlerischen Betätigung im Sinne einer freien schöpferischen Gestaltung entwickelt, in der Intuition, Fantasie und Kunstverstand (vgl. BVerfGE 30,173,188) zusammenwirken, inspiriert von Kunstgeschichte und Grafikdesign. Merkmale dieser Tattookünstler sind ein unverwechselbarer Stil, der sich gestalterisch auf hohem Niveau bewegt mit Motiven jenseits des Mainstreams sowie Tattoozeichnungen, die von Genauigkeit und Feinheit geprägt sind und nicht seriell verwendet werden. Hierzu gehören u.a. als bekannteste Vertreter in Deutschland Chaim Machlev, der für seine abstrakten Motive bekannt ist sowie Simone Pfaff und Volko Merschky, die einen eigenen „Underground-Stil“ geschaffen haben. Diese und weitere populäre Tattookünstler veranlassen Menschen viel Geld auszugeben und weite Strecken zu reisen, um das Tattoo eines speziellen Tätowierers auf ihrem Körper zu tragen (https://www.goethe.de/de/kul/mol/20885263.html).
Mag im Jahr 2007 die Erkenntnis noch zutreffend gewesen sein, dass der Kunstmaler nach der allgemeinen Verkehrsauffassung im Gegensatz zum Tätowierer seinen Schwerpunkt im kreativen Schaffen habe, der Tätowierer hingegen in der handwerklichen Ausfertigung, kann dies in dieser Eindeutigkeit im Jahr 2022 nicht mehr bestätigt werden. So ist die Gattung Tattoo „museumsreif“ geworden, wie Ausstellungen hierzu belegen. Die Ausstellung „gestochen scharf“ – Tätowierung in der Kunst – in der Villa Rot vom 24.3.13— 28.7.13 (https://www.villa-rot. de/de/archiv-2-2/gestochen-scharf/) hat sich z.B. zur Aufgabe gemacht bar angewandte Kunst praktizierender Tätowierer vorzustellen. Im Begleitheft zur Ausstellung „Tattoo“ im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG) heißt es „Die Ausstellung «Tattoo» widmet sich alten Traditionen und neuen Geschichten. Der Blick richtet sich auf die lebendige, innovative und vielfältige Tattoo-Kultur, mit Augenmerk auf künstlerische, handwerkliche und kulturgeschichtliche Fragen. Die Schau präsentiert internationale Positionen aus diversen Perspektiven und nimmt aktuelle Diskussionen auf. Erstmals umfasst eine Ausstellung diese breite Palette von Bezügen und zeigt das Phänomen mit Fokus auf Kunst und Design; sind die bleibenden Bilder, Schriften und Symbole der Tattoos doch vielfach Inspirationsquelle für Künstler/innen und Designer/innen. So ist die gegenseitige Beeinflussung von Kunst, traditioneller und gelebter Tätowierkunst sowie visueller Gestaltung ebenso Thema der Ausstellung (https://www.mkg/hamburg.de/fileadmin/user_upload/ MKG /Ausstellung/Aktuell/MVKG_ Tattoo_ Beglleitheft_DE_neu.pdf). Bei der Ausstellung „TattooLegenden -Christian Warlich auf St. Pauli“ des Museums für Hamburgische Geschichte vom 27.11.2019 -25.05.2020, der weltweit die erste Ausstellung, die sich monothematisch mit einem Tätowierer befasste, handelt es sich zwar um eine historische Ausstellung, dennoch wurden auch dort seine Vorlagen, die bereits als Buchform erschienen sind, in den Fokus kunstwissenschaftlicher Betrachtung genommen (O.Wittmann: Tattoos in der Kunst, 2017).
Der Auffassung der Beklagten, dass die Anerkennung der Klägerin als Künstlerin davon abhängig gemacht werden muss, ob sie in fachkundigen Kreisen als Künstlerin anerkannt und behandelt wird ist deshalb nicht näherzutreten. Denn ist ein Teil der Gattung Tattoo per se künstlerisch geprägt, nämlich der Teil, in denen künstlerisch ausgebildeter Tätowierer, die mit anderen Medien als Künstler oder Illustrator in Künstlerkreisen anerkannt sind, bedarf es einer Anerkennung in Kreisen bildender Künstler, wie sie zum Beispiel vom Bundesverband der bildenden Künstler vertreten werden, nicht mehr.
Bereits in der Entscheidung des BSG (Urteil vom 07. Juli 2005 — B 3 KR 29/04 R —, SOozR 4- 5425 8 24 Nr. 7) wurde ein Vergleich zwischen den „klassischen“ Berufen des Grafikdesigners, Fotodesigners und Layouters und der neuen Tätigkeit des Webdesigners I gezogen, nach der sich zeige, dass sich die Aufgaben und Tätigkeiten in diesen Berufsfeldern weitgehend deckten und sich im Wesentlichen nur durch das zu bearbeitende Medium unterschieden. Aus diesem Grund sei der Webdesigner den Katalogberufen „Grafikdesigners, Fotodesigners und Layouter“ gleichzustellen. Der Umstand, dass der Web-Designer seinen Entwurf eigenhändig computertechnisch umsetzt, hinderte das BSG indes nicht an der Anerkennung als Künstler (Wagner, jurisPR-sozR 17/2007 Anm. 5). Im Falle der Klägerin wird die klassische Bearbeitung von Papier mit dem Stift durch das Stechen der Haut mit der Tätowiermaschine ersetzt.
Das BSG hat in der maßgeblichen Entscheidung (B 3 KS 2/07 R a.a.O.) darauf abgestellt, dass Tätowierer sich nicht auf das Entwerfen und Zeichnen von Tattoo-Motiven und Vorlagen beschränken, sondern ihr Einkommen aus dem Einsatz manuell technischer Fertigkeiten beziehen. Die vom BSG vorausgesetzte Schwerpunktbildung auf die handwerkliche Umsetzung kann im Falle der Klägerin nicht angenommen werden, denn sie hat die Kammer davon überzeugt, eine klassische Tätigkeit als Illustratorin auf der Haut ihrer Kunden fortzuführen. Ist eine Tätowiererin, wie die Klägerin, diplomiert und in ihren Kreisen bereits eine anerkannte Künstlerin, bleibt sie auch dann Künstlerin, wenn sie lediglich einen Wirkbereich ihrer Kunst mittels handwerklicher Tätigkeit auf und in der Haut verewigt (LSG für das Saarland, Urteil vom 9. Juni 2020, L1 KR 23/19: juris).
Bestätigt wird die Anerkennung der Klägerin in Künstlerkreisen durch ihre Teilnahme an zwei internationalen Ausstellungen mit einer Tuschezeichnung. Ihre künstlerische Qualifikation wird des Weiteren belegt durch die Ausbildung an einer Kunsthochschule sowie den vorhergehenden Tätigkeiten in den anerkannten künstlerischen Berufen der Trickfilmzeichnerin, der Web-Designerin und der Illustratorin. Ihre Werke aus dem Bereich der Tuschezeichnung (Ink-Painting) ähneln sich in den Motiven denen, die sie als Tattoo sticht und die nur aufgrund unterschiedlicher Beschaffenheit der Untergründe abgewandelt werden. Damit unterscheiden sich die auf der Leinwand realisierten Illustrationen der Klägerin nicht grundlegend von denen als Tattoo auf der Haut umgesetzten Entwürfen. Dabei handelt es sich nach ihrem glaubhaften Vorbringen um freie künstlerische Gestaltung, bei denen die Kunden lediglich eine Idee vorgeben dürfen, die Klägerin jedoch ein Unikat entwirft, welches anderen Künstlern nicht zur Verfügung gestellt wird. In der Umsetzung eines Entwurfs der Klägerin lässt sich das von ihr erwünschte Ergebnis nach ihren überzeugenden Darstellungen nämlich nur durch sie eigenhändig handwerklich umsetzen. Auch dieser Umstand spricht gegen eine schwerpunktmäßige handwerkliche Tätigkeit.
Damit liegt eine Vergleichbarkeit der Arbeiten der Klägerin als Tattookünstlerin mit denen einer Grafik-Designerin, Illustratorin oder Kunstmalerin vor. Sie hat ihre gestalterische Ausbildung an einer Kunsthochschule und berufliche Tätigkeit als Illustratorin für andere Medien in ihr Betätigungsfeld als Tätowiererin übernommen. Zum Teil in vollständig freier schöpferischer Gestaltung, zum Teil nach gestalterisch auslegungsfähigen Vorgaben der Kunden hat die Klägerin einen eigenen, wiedererkennungsfähigen, illustrativeren Stil und damit eine spezielle Ästhetik als Künstlerin entwickelt. Diese individuelle Ausdrucksart kann auch nur durch die Klägerin eigenhändig ausgeführt werden, weil es entscheidend — wie bei der Illustratorin überhaupt -auf die spezifische Umsetzung, den „eigenen Pinselstrich“ ankommt.
Damit hat sie das konventionelle Berufsbild des Tätowierers, der Körperschmuck als modisches Accessoire technisch -manuell auf die Haut aufbringt, verlassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
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